Seit etwa zwei Jahren ist mein Nachbar Rainer H. Rentner. Er mäht jetzt seinen Rasen selbst, im Sommer mitunter Woche für Woche. Das dauert jedes Mal gut und gerne zwei Stunden. Sein Benzinmäher ist nicht zu überhören.
Früher, als mein Nachbar noch gearbeitet hat, kam zum Rasenmähen ein Gärtner. Der hat den Rasen übrigens in knapp einer Stunde gemäht.
Ich will Ihnen drei Erklärungen anbieten, warum H. begonnen hat, seinen Rasen selbst zu pflegen:
Antwort 1 könnte theoretisch zutreffen, aber im konkreten Fall kann man sie ausschließen, denn H. ist recht vermögend.
Es verbleiben also noch Antwort 2 und 3.
Selbstverständlich kommt auch Antwort 2 grundsätzlich als Begründung für H.s Verhaltensänderung in Frage. Aber vielleicht ist Antwort 3 überzeugender: Sie besagt, dass es für H. günstiger geworden ist, seinen Rasen selbst zu mähen. Auf Antwort 2 kommen wir gleich noch einmal zurück.
An dem Tag, an dem H. Rentner geworden ist, wird sich seine Fertigkeit, den Rasen zu mähen, sicher nicht schlagartig verändert haben. Aber etwas anderes hat sich ganz wesentlich verändert: seine Kosten für eine Stunde Zeit. Um welchen Betrag kann ich leider nicht in Erfahrung bringen, denn ich mag H. nicht fragen, was er früher im Schnitt pro Stunde verdient hat. Aber es war bestimmt nicht wenig. Und daher war H.s Zeit bis zu seinem Renteneintritt recht teuer. Deswegen war das Rasenmähen für ihn mit vergleichsweise hohen Kosten verbunden.
Nehmen wir für ein kleines Rechenexempel einmal an, H. hätte für eine Überstunde netto 60 EUR mehr in der Lohntüte gehabt. Und nehmen wir weiter an, dass ihn eine Stunde mehr Berufstätigkeit und eine Stunde Rasenmähen etwa gleich angestrengt haben. Dann hätte es ihn 120 EUR gekostet, den Rasen selbst zu mähen, wenn man von den Kosten für Rasenmäherabnutzung und Benzin einmal absieht. Der Gärtner verlangt aber gerade mal 46 EUR pro Stunde Gartenpflege - und nimmt den Grünschnitt sogar noch mit. Als H. noch gearbeitet hat, musste er überhaupt nicht rechnen: Der Gärtner mäht den Rasen viel günstiger als er selbst.
Mit H.s Renteneintritt sind seine Zeitkosten aller Wahrscheinlichkeit nach dramatisch gefallen. Ich will H. nicht zu nahe treten, aber ich kann mir nicht vorstellen, wo er in seinem Alter und mit seinen Fähigkeiten noch einen guten Stundenlohn erzielen könnte. Das heißt nicht, dass H.s Zeit nichts mehr wert ist. Er kann ja außer Rasenmähen auch diversen anderen mehr oder weniger sinnvollen Tätigkeiten nachgehen. Aber es heißt, dass er als Rentner den Rasen zu deutlich geringeren Kosten mäht als zu der Zeit, in der er noch berufstätig war. Und diese Kosten haben natürlich einen ganz erheblichen Einfluss auf seine Entscheidung, einen Gärtner zu beauftragen oder nicht.
Wir haben nun zwei konkurrierende Erklärungen: "H. hat plötzlich seine Liebe zur Gartenarbeit entdeckt" und "H.s Opportunitätskosten (des Rasenmähens) sind gesunken." Wir können nicht ausschließen, dass H. plötzlich mit Freude den Rasen mäht. Aber mit ähnlich platten Argumenten können wir jede Verhaltensänderung erklären. Beobachten wir, dass die Haushalte im Winter weniger heizen, dann können wir natürlich als Erklärung anführen, sie möchten es gerne etwas kälter haben als früher. Eine Erklärung, die sich auf gestiegene Heizkosten stützt, würde mich aber mehr überzeugen. Und so geht es mir auch mit meinem Rasen mähenden Nachbarn: Überzeugend ist allein die Hypothese, dass seine Verhaltensänderung ihre Ursache in den veränderten Kosten hat. Sie ist zudem auch generell überprüfbar. Die Hypothese würde lauten: Mit steigendem Stundenlohn nimmt unter sonst gleichen Umständen die Wahrscheinlichkeit zu, Hilfen bei der der Haus- und Gartenarbeit zu beschäftigen. Natürlich wäre es für eine solche Überprüfung notwendig, entsprechende Daten zu erheben.
Zum Mitdenken:
"Wenn ich erstmal Rentner bin, dann werden wir viel verreisen." Das haben Sie sicher schon einmal im Verwandtenkreis gehört. Können Sie eine ökonomische Erklärung anbieten?
Tragen Sie in einem "x-y-Diagramm" an der x-Achse das Lebensalter von 0 bis 99 Jahre und an der y-Achse die Zeitkosten pro Stunde ab. Zeichnen Sie den typischen Verlauf ein, den Sie für die Zeitkosten über das Lebensalter betrachtet vermuten.
Wir betrachten eine zweite, diesmal hypothetische Situation, um uns über die Höhe von Opportunitätskosten Gedanken zu machen. Stellen Sie sich eine Fernsehshow vor, in der die Kandidaten zum Gaudi des Publikums an albernen Wettbewerben teilnehmen. Am Ende winkt dem Sieger dafür ein wertvoller Preis.
Der Sieger steht inzwischen fest. Damit die Zuschauer dennoch nicht vor der letzten Werbepause den Sender wechseln, wird noch einmal Spannung aufgebaut: Der Gewinn steht noch nicht fest. Der Sieger hat vielmehr zwischen drei verschiedenen Gewinnen die freie Auswahl, und zwar zwischen einer Reise im Wert von 15.000 EUR, einem Auto mit einem Wert von 22.000 EUR und einem Überraschungspaket von unbekanntem Wert. Das Überraschungspaket kann außerordentlich wertvoll sein. So könnte es zum Beispiel eine Million Euro in bar enthalten. Aber es könnte ebenso eine Niete sein.
Wir können nicht prognostizieren, für welchen Preis sich der Kandidat entscheiden wird. Denn wir kennen weder seine Risikopräferenz noch haben wir Erfahrungen über den Wert des Überraschungspakets aus der Vergangenheit, die wir oder er für eine Prognose verwenden können. Also sehen wir einfach weiter zu und warten ab, was passiert. Als der Moderator schließlich fragt: "Welchen Preis hätten's denn gern?", antwortet der Kandidat: "Ich nehme das Überraschungspaket."
Jetzt wissen wir zwar immer noch nicht, was sich in dem Paket befindet, jedoch können wir eine Aussage über den Wert des Pakets treffen, den ihm der Kandidat im Moment seiner Entscheidung beigemessen hat. Er muss - unterstellt, dass er bei Sinnen war - einen Wert von wenigstens 22.000 EUR erwartet haben ( mehr zu Entscheidungen unter Unsicherheit). Wenn er sich nämlich für das Paket entscheidet, entgeht ihm ein Auto im Wert von 22.000 EUR.
Nun könnte man vielleicht auf die Idee kommen, ihm entgingen zwei Preise, wenn er sich für das Überraschungspaket entscheidet. Das Paket kostete ihn den Verzicht auf die Reise und das Auto. Er müsste demnach mindestens einen Wert von 37.000 EUR erwartet haben. Da liegt jedoch ein Denkfehler vor. Der Kandidat kann sich ja nur für eine Alternative entscheiden. Die Entscheidung kostet ihn also nicht den Verzicht auf alle anderen Alternativen, sondern nur auf eine.
Wenn wir nach den Opportunitätskosten fragen, dann ist das gleichbedeutend mit der Frage: Wie hoch ist der Wert der besten Alternative, auf die der Kandidat verzichtet hat?
Opportunitätskosten werden auch Alternativ- oder Verzichtskosten genannt.
Zum Mit- und Nachdenken:
Opportunitätskosten in Form entgangener Einkommen oder entgangenen Nutzens werden häufig übersehen. So bestehen zum Beispiel die Kosten eines Studiums nur zum geringsten Teil aus direkten Kosten für Studiengebühren, Semesterbeiträge oder Lehrbücher. Die wesentlichen Kosten bestehen in den entgangenen Einkommen, die man in der Zeit des Studiums hätte erzielen können (seien Sie aber beruhigt: Nach wie vor verzinst sich eine Investition in das eigene Humankapital deutlich besser als eine risikoarme Anlage des alternativ erzielten Einkommens am Kapitalmarkt - und das ist nur der monetäre Aspekt).
Die wesentlichen Kosten für Kinder bestehen nicht etwa in Ausgaben für Nahrung und Kleidung, sondern in den entgangenen Einkommen (meistens) ihrer Mütter. Und zwar nicht nur in den entgangenen Einkommen während der Erwerbsunterbrechung, sondern auch in der zeitlebens verbleibenden Einkommensdifferenz im Anschluss an die Erwerbsunterbrechung, die im Vergleich zu kontinuierlicher Erwerbstätigkeit entsteht.
Zudem wird oft außer acht gelassen, dass zahlreiche Aktivitäten mit hohem Zeitaufwand "hergestellt" werden müssen. Wer sich am Samstagabend "Schlag den Raab" ansieht und so "Unterhaltung" produziert, denkt sicher an die Kosten für sein Fernsehgerät und die GEZ. Diese "häusliche Produktion" von Unterhaltung ist aber ohne den Faktor Zeit gar nicht möglich.